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Vorbemerkung
Die folgenden Beiträge zu möglichst aktuellen
sozialökonomischen und wirtschaftspolitischen Themen sollen zwar
auf einem wissenschaftlichen Fundament ruhen, erheben aber nicht den
Anspruch, immer aus eigener Forschung abgeleitet zu sein.
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Nutzen und Qualitätsprobleme einer forcierten Bildungsexpansion,
von Peter Stolz und
Dr. Kilian Reber
I. Bildung, Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt
Bildung führt zu mehr Wirtschaftswachstum und bietet den
Individuen mehr Chancen zur Ausschöpfung ihrer Talente. Diese
Aussagen sind weitgehend unbestritten. Tatsächlich wird ein
positiver Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Produktivität und
demjenigen des Sozialprodukts festgestellt [Samuelson und Nordhaus
2001, S. 651] - ob es sich nun um die totale Faktorproduktivität
(Gesamtproduktivität) oder die Arbeitsproduktivität handle.
Wenn mehr oder bessere Bildung tatsächlich die Produktivität
erhöht, so muss sie auch einen positiven Einfluss auf das Wachstum
des Sozialprodukts haben. Zum (Produktions-)Faktor “bessere
Bildung”: Die Qualität
der Bildung auf Mittel- und Hochschulstufe spielt noch mehr als die
blosse Quantität (absolvierte Jahre in entsprechenden
Ausbildungsgängen) eine bedeutende positive Rolle für das
Wirtschaftswachstum eines Landes. Besonders wichtig (nach Signifikanz
und Stärke des Einflusses) sind dabei die in internationalen
Vergleichen erfassten Leistungen in naturwissenschaftlichen Tests [Barro 2001, S. 14 ff.].
Wir wollen aber hier den Fokus nicht ausschliesslich
nur auf die Güterproduktion und deren Zuwachsrate richten, sondern
auch Wohlfahrt jenseits von Messgrössen wie Bruttosozialprodukt
(BSP) oder Bruttoinlandprodukt (BIP) im Auge behalten. So wollen wir
beispielsweise respektieren, dass sich Bildung auch ohne
Investitionsgut-Charakter - nämlich als Konsumgut - positiv auf
die Lebensqualität auswirken kann. Dies mag etwa der Fall sein,
wenn geistige Interessen bzw. kulturelle Präferenzen mehr Chancen
zur Selbstverwirklichung bieten.
Wenn die Gesellschaft freilich Kosten der Bildung
übernehmen soll, bedarf es zusätzlicher
Rechtfertigungen: im Fall von Bildung als Konsumgut positive externe
Effekte wie etwa gesundheitsförderndes oder umweltfreundliches
Freizeitverhalten. Denn dies ist ein Verhalten, das auch Drittpersonen
nützt.
II. Grenzen des Nutzens von Bildungsexpansion und Akademisierung
1. Bildungsexpansion nach Massgabe des Anteils an
Maturitäten oder Hochschuldiplomen in den entsprechenden
Altersjahrgängen ohne Rücksicht auf die Struktur und die
Qualität der Absolvent/innen kann eine Senkung des Niveaus
bedeuten - besonders dann, wenn in manchen Fällen die
Begabungsreserven schon weitgehend ausgeschöpft sind. Die
Bildungsexpansion kann auch an den für die Wirtschaftsentwicklung
besonders wichtigen Naturwissenschaften und der Technik
vorübergehen, was sich in der Schweiz schon früh abzeichnete
[empirisch untersucht von Stolz 1980].
2. So ist es fraglich, ob das in neuen
Bildungsgängen formalisierte „Aufwerten“ von bisher
primär praktischen Tätigkeiten wirklich zu substanziellen
Verbesserungen und zumal zu Wohlstandssteigerungen führt -
Wohlstandszunahmen, die sich nicht allein im Statusgewinn der
„Neuakademiker“ erschöpfen würden. Als Beispiel
seien wichtige paramedizinische Tätigkeiten wie etwa diejenigen
von Hebammen oder Physiotherapeuten genannt. Der Weg dazu soll
künftig ausschliesslich Fachhochschulen (FH) vorbehalten bleiben.
Im Zuge der Bologna-Reformen kann dies über den Bachelorgrad
hinaus auch zu Master-Weiterbildung führen. Besteht nicht die
Gefahr, dass damit die Besten, statt qualitativ hochwertige Arbeit am
Patienten zu leisten, vor allem den Papierberg im Bereich des
Qualitätsmanagements (QM) erhöhen? Selbstverständlich
ist QM im Gesundheitswesen wichtig. Die Ausdifferenzierung neuer
Tätigkeiten und die Profilierung entsprechender Akteure kann aber
dazu führen, dass QM geradezu Qualität verdrängt. Denn
die Ressourcen sind begrenzt. Nur werden die Kosten dieser
Akademisierung nicht so sehr den Verursachern auferlegt, sondern
primär den vorrangig zur Wertschöpfung beitragenden
Leistungserbringern.
3. Oft werden unter Ziffer 2 genannte
Aktivitäten - auch in anderen FH-Bereichen -
grosszügig als „Forschung“ etikettiert. Das Zauberwort
der Forschung spielt eine wichtige Rolle darin, dass traditionell
nichtakademische Bereiche akademische Weihen erhalten. Die
Bildungspolitik hat nun die angewandte Forschung tendenziell den FH
zugewiesen (Art. 3, Abs. 3 und Art. 9, Abs. 1 Fachhochschulgesetz
[FHSG]), die Grundlagenforschung typischerweise den Universitäten
und den beiden ETH. Dabei ist zu bedenken, dass die Grenzen zwischen
anwendungsorientierter Forschung einerseits und Entwicklung sowie
Dienstleistungen andererseits, die ebenfalls im FHSG erwähnt
werden, an FH oft aufgeweicht sind. Aber auch an den universitären
Hochschulen kann nicht nur Grundlagenforschung betrieben werden.
Qualitativ hochwertige angewandte Forschung benötigt auch Impulse
seitens der Universitäten.
4. Die Signale an Dritte sind ambivalent: Bei aller
„Akademisierung“ des FH-Bereichs ist dort immerhin nach wie
vor die Berufsausbildung samt Berufsmatur (Art. 5 Abs. 1 lit. a FHSG) -
oder alternativ eine gymnasiale Maturität mit zusätzlichem
relevantem Praxisjahr (Art. 5 Abs. 1 lit. b) - die Basis des Studiums:
Der neue Bachelor-Abschluss beinhaltet also nach wie vor eine berufliche
Qualifikation. Auf universitärer Stufe dokumentiert der gleiche
Titel hingegen ein absolviertes Grundstudium, das allenfalls
später in eine spezialisierte Weiterbildung auf Master-Stufe
münden kann. In Ländern ohne Maturität wird
überdies teilweise auf Bachelor-Ebene noch Allgemeinbildung
nachgeholt.
Es stellt sich die Frage, ob die Stärke der FH nicht gerade dort liegt, wo sie traditionell stark
waren, nämlich in ihrer Verankerung in der Berufsbildung, also in
ihrer Praxiskompetenz. Wenn dem so ist, wird wohl ein Teil der
Ressourcen im Bildungswesen falsch eingesetzt - und zwar primär
aus Gründen von Prestige und Einkommen: Die gezwungene allgemeine
Verpflichtung von FH auf Forschung zielt dann teilweise am eigentlichen
Auftrag dieser Bildungsinstitutionen vorbei - Fachhochschulgesetz hin
oder her. Ressourcenknappheit legt speziell für die FH den Schluss
nahe, die Mittel hier sorgfältig einzusetzen: Forschung ist eine
Sache des Talents und der intrinsischen Motivation. Letztere finden
sich durchaus an den FH, sind aber nicht so verbreitet wie an den
Universitäten sowie den beiden ETH.
5. Im vorherigen Punkt war von der nur scheinbaren
Harmonie zwischen Bachelor (Uni) und Bachelor (FH) die Rede. In
abgeschwächtem Masse gilt dies auch für den Master-Grad. Aber
auch am oberen Ende der Skala wird mit der - schon vor der
Bologna-Reform - vollzogenen Aufwertung der Fachhochschuldozenturen zu
Professuren der Eindruck einer Einheitlichkeit erweckt, die so nicht
zutrifft. Der Weg zum Universitätsprofessor führt sowohl
über intensive Publikationstätigkeit als auch über eine
Habilitation beziehungsweise eine Assistenzprofessur mit Tenure Track und ist riskanter und steiler.
6. Qualitätsprobleme stellen sich aber
keineswegs nur im FH-Bereich, wenn man an die Fixierung auf blosse
Zahlen von Maturandinnen und Hochschulabsolventen und deren stark
politisch-opportunistisch motivierte Ausdehnung denkt. Der Trend zur
Massenuniversität ist ja nur deshalb möglich, weil vermehrt
auch trivialere praktische Aufgaben und deren Lösung im Rahmen
neuer Fächer akademisiert werden [kritisch: Zimmermann 2007] -
Aufgaben, die von qualifizierten Praktikern meistens bestens
gelöst werden könnten. Selbstverständlich sind neue
(mittlerweile zum Teil etablierte) Disziplinen entstanden, die wie die
Informatik ihre Eignung zur wissenschaftlichen Lösung
schwierigster Probleme eindrücklich bewiesen haben. Nicht alle
aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Probleme haben
demgegenüber schon den Rang von Themen, die mit wissenschaftlichen
Methoden bearbeitet werden müssen. Speziell an universitären
Hochschulen sollten Studien - welcher Fachrichtungen auch immer - die
Absolvent/innen doch mit intellektuellen Instrumenten und Techniken
vertraut machen, die sie auch auf andere als die im Moment des Studiums
gerade aktuellen Aufgaben anwenden können. Eine
Universitätsausbildung darf sich schon gar nicht darauf
beschränken, gleichsam blosse Betriebsanleitungen zur
Bewältigung momentan brennender Probleme abzugeben.
LITERATUR
Barro, Robert J: Human Capital and Growth. In: American Economic Revew, 91 (2001), No. 2, S. 12-17.
Samuelson, Paul A.; Nordhaus, William D.: Economics. Boston etc., 17. Aufl. 2001.
Stolz, Peter:
Ingenieure abseits der Bildungsexpansion. In: Schweizerische
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 116 (1980), Heft 1,
S. 31-52.
Zimmermann, Heinz: Realitätsferne Akademisierung des Arbeitsmarktes. In: Basler Zeitung, 5. März 2007, S. 30.
Wettbewerb, Effizienz und Ethik
Von Peter
Stolz, Professor am WWZ der Universität Basel (emeritiert)
Speziell von
Nichtökonomen wird oft grundsätzlich bezweifelt, dass
Effizienzgewinne im Sinne einer Steigerung materiellen Wohlstands
einerseits und Ethik bzw. bestimmte ethische Positionen andererseits
überhaupt miteinander vereinbar seien. Dies wird im Folgenden an
einem realistischen Beispiel diskutiert: Als Ausgangspunkt dient die
Annahme, eine Unternehmung bringe ein Haushaltsgerät mit einer
bisher unerreichten Energieeffizienz auf den Markt. Der Wettbewerb mit
den Konkurrenzfirmen auf diesem Konsumgütermarkt habe den Anreiz
dazu vermittelt und den konkreten Anstoss zur Innovation gegeben. Es
gelinge dem innovativen Unternehmen, dank seines neuen Produkts seinen
Marktanteil auf Kosten desjenigen der Konkurrenzfirmen zu erhöhen
– mit allen Folgen für Gewinne und Beschäftigung.
Als Exempel
einer in verschiedenen Kulturkreisen und Religionen verbreiteten Maxime
formaler Ethik diene die Goldene Regel [Beispiel einer ethischen
Diskussion inmitten von ökonometrischen Untersuchungen: Stolz und
Camenzind 1992, S. 120 ff.]. In der oft erwähnten negativen
Fassung besagt sie, dass man einer anderen Person nichts zufügen
solle, was man selber nicht erdulden wolle: „Person“ kann
in diesem Zusammenhang neben einem Individuum zum Beispiel auch eine
juristische Person bedeuten. In einer christlich inspirierten
Wirtschaftsethik läge auch die positive Version dieser Maxime
[Venetz 1995, S. 149] nahe, wie sie in der Bergpredigt (Mt 7,12) steht:
„ Alles nun, was ihr wollt, dass es euch die Menschen tun, das
sollt auch ihr ihnen tun...“ Hier wird demgegenüber aus
didaktischen Gründen die negative Form der Goldenen Regel
verwendet, weil sie sich optimal in das Fallbeispiel einfügt.
Sachlich ändert sich im vorliegenden Kontext dadurch keine der
Aussagen. Die Maxime lautet dann: „Was du nicht willst, das man
dir tu, das füg auch keinem andern zu.“
Verstösst nun der genannte Anbieter des neuen, energiesparenden
Haushaltsgeräts nicht genau gegen diese Regel, da er es ja
umgekehrt auch nicht schätzen würde, seine Marktanteile an
die Konkurrenz zu verlieren? Wenn man das Verhalten der für die
Markteinführung des neuen Produkts zuständigen Person(en)
isoliert betrachtet, ist man geneigt, diese Frage zu bejahen.
Intensiver Wettbewerb - im besprochenen Fall Qualitätswettbewerb
– erschiene dann ethisch fragwürdiger als wenig intensive
Konkurrenz. Jedoch, die Institution des Wettbewerbs erschöpft sich nicht
in einer Konfliktsituation zwischen mehreren Anbietern, in welcher der
Vorteil des einen, wie zum Beispiel im Schach, lediglich gleich dem
Nachteil der anderen ist. Konkurrenz muss also nicht zwangsläufig
ein Nullsummenspiel, sondern kann potenziell eine Win-Win-Situation
sein [Hirshleifer 1978, S. 239 f.]. Der aus dem
Qualitätswettbewerb hervorgehende technische Fortschritt stiftet
vielmehr den Nachfragern zusätzlichen Nutzen bzw. spart ihnen Energiekosten. Er schützt überdies auch die Umwelt.
Den
Verbrauchern nützlich und der Umweltqualität förderlich
ist das neue Produkt natürlich nur, wenn im Beispiel der
Qualitätsvorsprung des neuen Haushaltsgeräts nicht unter dem
Druck etwa eines scharfen Preiswettbewerbs vom Unternehmen bloss
vorgetäuscht wird – einer Unternehmung, die dann nur
scheinbar neuerungsfreundlich ist. Ein nur vorgespielter, die
Nachfrager irreführender Qualitätsvorsprung ist hingegen
unethisch gegenüber den Konsumentinnen, ethisch defizitär
aber auch im Verhältnis zu den Mitkonkurrenten. Wohlgemerkt:
„Unethisch“ ist keine Sachaussage, sondern gewinnt in einem
Kontext, der sich an wissenschaftlichen Massstäben orientiert, nur
dann einen Sinn, wenn man genau sagt, welches Konzept von Ethik man
meint: hier also die Goldene Regel. Obwohl Wirtschaftsrecht wie alles
Recht nur ein ethisches Minimum ist, kann derart ausgeprägt
unethisches Verhalten doch auch widerrechtlich im Sinne unlauteren
Wettbewerbs sein.
Die Goldene
Regel verlangt hingegen fairen Wettbewerb, wobei sich wie erwähnt
diese und andere moralische Forderungen teilweise auch in gesetzlichen
Bestimmungen niederschlagen. Ein bildlicher Vergleich mit einem
sportlichen Wettbewerb soll das Fairnessgebot verdeutlichen: Fair ist
zum Beispiel der Wettbewerb solange, als ein/e Sportler/in nicht den
Schiedsrichter täuscht, nicht andere Athleten bzw. Spieler einer
gegnerischen Mannschaft an der Entfaltung von deren Können
hindert, indem diese etwa an der Kleidung zurückgehalten werden
usw. Im Sinne der Fairness ist es vielmehr, die eigenen Kräfte
möglichst gut einzusetzen. Am Paradigma des sportlichen Wettkampfs
wird deutlicher, dass die Goldene Regel gemäss dieser Konzeption
auf die Spielregeln abzielt,
also auf die Ebene der Institutionen, nicht auf die des konkreten
Spielausgangs im einzelnen. Die Akteure müssen die gleichen
Chancen haben, ihre Fähigkeiten und ihren Fleiss zu entfalten und
einzusetzen. Diese Chancengleichheit kann Effizienz mit einer inhaltlich bestimmten Form der Gleichheit versöhnen [Rawls 1973, S. 359].
Auf der
Ebene des konkreten Ergebnisses eines „Spiels“ gibt es
hingegen leider Verlierer. Die oben genannte Zielharmonie zwischen
Effizienz und Chancengleichheit als einer bestimmten Ausprägung
der Goldenen Regel setzt sich auf der individuellen Ebene nicht
automatisch fort. Immerhin ist es auch im Interesse der
Schwächeren wohl besser, wohlstandssteigernde Massnahmen nicht zu
blockieren, sondern Verlierer im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft
wo nötig zu kompensieren.
LITERATUR
Hirshleifer, Jack: Competition, Cooperation, and Conflict in Economics and Biology. In: American Economic Review, 68 (1978), No. 2, S. 238-243.
Rawls, John: Distributive Justice. In: E.S. Phelps (Hrsg.): Economic Justice. Harmondsworth etc. 1973, S. 319-362.
Stolz, Peter; Camenzind, Paul: Innovationen, Beschäftigung und Arbeitswelt. Chancen und Risiken aus ökonomischer Sicht. Chur und Zürich 1992.
Venetz, Hermann-Josef: Die Bergpredigt. Biblische Anstösse. Düsseldorf und Fribourg, 3. Aufl. 1995.
Direkte Bundessteuer - Abschaffen oder Tarif überdenken?
Von Peter
Stolz, Professor am WWZ der Universität Basel (emeritiert)
Ende Januar dieses Jahres schlugen die
Delegierten der FDP Schweiz vor, die Direkte Bundessteuer sei
abzuschaffen. Dieser Punkt ist Bestandteil eines Programms für
eine wachsende Schweiz, das von der grossen Mehrheit der
FDP-Delegierten angenommen wurde. Es gab schon früher
Vorstösse in dieser Richtung. Eine der hauptsächlichen
Kritiken (auch aus FDP-Kreisen) an dieser Absicht liegt darin, dass die
Einnahmenausfälle kompensiert werden müssten und dass
dadurch die Mehrwertsteuerbelastung stiege. Ein höherer Satz bzw.
höhere Sätze bei der Mehrwertsteuer würden aber wegen
der degressiven Wirkung die wirtschaftlich ohnehin schon
Schwächeren zusätzlich belasten.
Das heisst aber nicht, dass die Direkte Bundessteuer
in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung nicht Schwachpunkte aufwiese.
Wenn auch die wirtschaftlich Schwachen geschont werden, zieht die
Steuerbelastung ausgerechnet im Mittelstandsbereich massiv an. Einige
Beispiele sollen diese Aussage belegen. Für Verheiratete sowie
für alleinstehende Personen mit Unterhaltspflicht (Tarif B)
beläuft sich die Steuerbelastung (Durchschnittssteuersatz) bei
einem steuerbaren Einkommen von 65'000 CHF pro Jahr lediglich auf 1
Prozent. 97'000 Franken werden mit 2,1% besteuert, 108'100 CHF
steuerbares Einkommen pro Jahr schon mit 2,5%, und bei 134'700 Franken
beträgt der durchschnittliche Steuersatz gut 3,6 Prozent.
Damit die Anreize zu arbeiten und zu leisten intakt sind, ist
die Grenzsteuerbelastung (oder marginale Steuerbelastung) noch
wichtiger als der durchschnittliche Steuersatz. Die
Grenzsteuerbelastung gibt an, wieviele Rappen man von einem
zusätzlichen Franken an den Fiskus abliefern muss. Mathematisch
formuliert, handelt es sich um die erste Ableitung des Steuerbetrags
nach dem steuerbaren Einkommen. Diese Grenzsteuerbelastung beträgt
bei den genannten 65’000 Franken im Tarif B 3%: Für jeden
weiteren Franken steuerbares Einkommen sind somit 3 Rappen an den Bund
abzuliefern. Bei 108'100 Franken schnellt dieser Wert auf 7 Prozent
hinauf, um bei 134'700 CHF 12% zu erreichen. Die höchste
Grenzsteuerbelastung von 13% wird bei Verheirateten oder
Unterhaltspflichtigen (Tarif B) ab einem Einkommen von 136'500.- pro
Jahr erreicht. In Tarif A für Alleinstehende kommt dieser
Grenzsteuersatz von 13% übrigens erst bei einem höheren
Einkommen zum Tragen. Zurück zum Tarif B: Ab dem äusserst
hohen Jahreseinkommen von 843'600 CHF geht der marginale Steuersatz
wieder auf 11,5 Prozent zurück. Dies ist so, weil in Art. 128 Abs.
I lit. a der Bundesverfassung der durchschnittliche Steuersatz auf
dieser Schwelle „abgeregelt“ wird. Die Steuer ist ab dann
proportional, das heisst, der durchschnittliche und der marginale
Steuersatz sind gleich hoch und konstant.
Im Lichte der Tatsache, dass für
Mittelstandseinkommen knapp über 100'000 CHF finanzielle Anreize
zu arbeiten eher wichtiger sind als für extrem gut Situierte ab
843'600 Franken, erscheint diese Abstufung der Grenzsteuerbelastung als
eher seltsam. Die häufige Bezeichnung der Direkten Bundessteuer
als Reichtumssteuer ist vor dem Hintergrund dieser Zahlen
fragwürdig.
Betrachten wir nun eine vierköpfige Familie
(Tarif B) und vergleichen wir sie mit einer alleinstehenden Person, auf
die Tarif A angewendet wird. Wenn die 4-Personen-Familie ein
steuerbares Einkommen von - sagen wir – 120'000 Franken im Jahr
bezieht, so schuldet sie dem Fiskus 3'520 CHF pro Jahr. Eine
alleinstehende Person mit 60'000 Fr./Jahr steuerbarem Einkommen zahlt
dafür demgegenüber nach Tarif A 786.45 Fr. Gemäss
allgemein akzeptierten Äquivalenzkriterien muss eine Familie mit
zwei Erwachsenen und zwei Kindern ein doppelt so grosses Einkommen wie
eine alleinstehende Person ohne Kinder erzielen, um den gleichen
Wohlstand zu erreichen [Leu et al., zit. nach Frey 2002, S. 185f.] -
deshalb dieser Vergleich. Bei gleichem Wohlstand zahlt also die Familie
ungefähr 4,5 mal soviel Steuern wie die alleinstehende Person. Bei
gleichem Äquivalenzeinkommen wird die vierköpfige Familie
also um ein Mehrfaches stärker belastet als der
Einpersonenhaushalt.
Nehmen wir jetzt an, das Einkommen dieser Familie
aus 4 Personen entstamme nur einer Quelle: Dann ist es plausibel davon
auszugehen, dass dieser eine Verdiener eine höhere formale
Qualifikation erworben und eine längere Ausbildung durchlaufen hat
als die Person, die im Jahr 60'000 Franken verdient. Daraus folgt, dass
sich das Lebenseinkommen des „Familienversorgers“ auf eine
kürzere Zeitspanne konzentriert als das der allein lebenden
Person. Das grössere Jahreseinkommen führt zu einer
höheren Progression und damit selbst bei einem gleichen
Lebenseinkommen zu einem höheren Steuersatz [Stolz 2004, S. 366].
In einem Bundesgerichtsentscheid [Praxis BGer 1984] wird jedoch
verlangt: „Leute mit gleicher wirtschaftlicher
Leistungsfähigkeit sollen gleich viel Steuern bezahlen“.
Natürlich ergeben sich bei Kantons- und
Gemeindesteuern - freilich meist in milderer Form – analoge
Probleme wie einige der genannten. Bei der direkten Bundessteuer sind
die Probleme aber besonders virulent. Einen Teil dieser Schwierigkeiten
könnte man gerade hier mit einer Milderung des Tarifs im Bereich
der Mittelstandseinkommen lösen. Mit den wiederholten Forderungen,
diese Steuer abzuschaffen, verwendet man aber Ressourcen genau auf die
Variante, die am wenigsten Chancen hat, realisiert zu werden.
LITERATUR
Frey, René L.: Wirtschaft, Staat und Wohlfahrt. Basel, Genf und München, 11. Auflage 2002.
Praxis des Bundesgerichts: 1984, Nr. 234, S. 630.
Stolz, Peter: Chancen
und Risiken ökonomischen Denkens in der juristischen Lehre und in
der Rechtssprechung. In: C.A. Schaltegger und S.C. Schaltegger (Hrsg.):
Perspektiven der Wirtschaftspolitik. Festschrift für Prof.Dr.
René L. Frey, Zürich 2004, S. 361-374.
31.01.2015
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