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Prof. Dr.rer.pol. Peter Stolz und

Dr.rer.pol. Kilian Reber

  

 

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Vorbemerkung


Die folgenden Beiträge zu möglichst aktuellen sozialökonomischen und wirtschaftspolitischen Themen sollen zwar auf einem wissenschaftlichen Fundament ruhen, erheben aber nicht den Anspruch, immer aus eigener Forschung abgeleitet zu sein.

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Nutzen und Qualitätsprobleme einer forcierten Bildungsexpansion, von Peter Stolz und Dr. Kilian Reber

I. Bildung, Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt

Bildung führt zu mehr Wirtschaftswachstum und bietet den Individuen mehr Chancen zur Ausschöpfung ihrer Talente. Diese Aussagen sind weitgehend unbestritten. Tatsächlich wird ein positiver Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Produktivität und demjenigen des Sozialprodukts festgestellt [Samuelson und Nordhaus 2001, S. 651] - ob es sich nun um die totale Faktorproduktivität (Gesamtproduktivität) oder die Arbeitsproduktivität handle. Wenn mehr oder bessere Bildung tatsächlich die Produktivität erhöht, so muss sie auch einen positiven Einfluss auf das Wachstum des Sozialprodukts haben. Zum (Produktions-)Faktor “bessere Bildung”: Die Qualität der Bildung auf Mittel- und Hochschulstufe spielt noch mehr als die blosse Quantität (absolvierte Jahre in entsprechenden Ausbildungsgängen) eine bedeutende positive Rolle für das Wirtschaftswachstum eines Landes. Besonders wichtig (nach Signifikanz und Stärke des Einflusses) sind dabei die in internationalen Vergleichen erfassten Leistungen in naturwissenschaftlichen Tests [Barro 2001, S. 14 ff.].

    Wir wollen aber hier den Fokus nicht ausschliesslich nur auf die Güterproduktion und deren Zuwachsrate richten, sondern auch Wohlfahrt jenseits von Messgrössen wie Bruttosozialprodukt (BSP) oder Bruttoinlandprodukt (BIP) im Auge behalten. So wollen wir beispielsweise respektieren, dass sich Bildung auch ohne Investitionsgut-Charakter - nämlich als Konsumgut - positiv auf die Lebensqualität auswirken kann. Dies mag etwa der Fall sein, wenn geistige Interessen bzw. kulturelle Präferenzen mehr Chancen zur Selbstverwirklichung bieten.
    Wenn die Gesellschaft freilich Kosten der Bildung übernehmen soll, bedarf es zusätzlicher Rechtfertigungen: im Fall von Bildung als Konsumgut positive externe Effekte wie etwa gesundheitsförderndes oder umweltfreundliches Freizeitverhalten. Denn dies ist ein Verhalten, das auch Drittpersonen nützt.



II. Grenzen des Nutzens von Bildungsexpansion und Akademisierung

    1. Bildungsexpansion nach Massgabe des Anteils an Maturitäten oder Hochschuldiplomen in den entsprechenden Altersjahrgängen ohne Rücksicht auf die Struktur und die Qualität der Absolvent/innen kann eine Senkung des Niveaus bedeuten - besonders dann, wenn in manchen Fällen die Begabungsreserven schon weitgehend ausgeschöpft sind. Die Bildungsexpansion kann auch an den für die Wirtschaftsentwicklung besonders wichtigen Naturwissenschaften und der Technik vorübergehen, was sich in der Schweiz schon früh abzeichnete [empirisch untersucht von Stolz 1980].

    2. So ist es fraglich, ob das in neuen Bildungsgängen formalisierte „Aufwerten“ von bisher primär praktischen Tätigkeiten wirklich zu substanziellen Verbesserungen und zumal zu Wohlstandssteigerungen führt - Wohlstandszunahmen, die sich nicht allein im Statusgewinn der „Neuakademiker“ erschöpfen würden. Als Beispiel seien wichtige paramedizinische Tätigkeiten wie etwa diejenigen von Hebammen oder Physiotherapeuten genannt. Der Weg dazu soll künftig ausschliesslich Fachhochschulen (FH) vorbehalten bleiben. Im Zuge der Bologna-Reformen kann dies über den Bachelorgrad hinaus auch zu Master-Weiterbildung führen. Besteht nicht die Gefahr, dass damit die Besten, statt qualitativ hochwertige Arbeit am Patienten zu leisten, vor allem den Papierberg im Bereich des Qualitätsmanagements (QM) erhöhen? Selbstverständlich ist QM im Gesundheitswesen wichtig. Die Ausdifferenzierung neuer Tätigkeiten und die Profilierung entsprechender Akteure kann aber dazu führen, dass QM geradezu Qualität verdrängt. Denn die Ressourcen sind begrenzt. Nur werden die Kosten dieser Akademisierung nicht so sehr den Verursachern auferlegt, sondern primär den vorrangig zur Wertschöpfung beitragenden Leistungserbringern.

    3. Oft werden unter Ziffer 2 genannte Aktivitäten - auch in anderen FH-Bereichen -   grosszügig als „Forschung“ etikettiert. Das Zauberwort der Forschung spielt eine wichtige Rolle darin, dass traditionell nichtakademische Bereiche akademische Weihen erhalten. Die Bildungspolitik hat nun die angewandte Forschung tendenziell den FH zugewiesen (Art. 3, Abs. 3 und Art. 9, Abs. 1 Fachhochschulgesetz [FHSG]), die Grundlagenforschung typischerweise den Universitäten und den beiden ETH. Dabei ist zu bedenken, dass die Grenzen zwischen anwendungsorientierter Forschung einerseits und Entwicklung sowie Dienstleistungen andererseits, die ebenfalls im FHSG erwähnt werden, an FH oft aufgeweicht sind. Aber auch an den universitären Hochschulen kann nicht nur Grundlagenforschung betrieben werden. Qualitativ hochwertige angewandte Forschung benötigt auch Impulse seitens der Universitäten.

    4. Die Signale an Dritte sind ambivalent: Bei aller „Akademisierung“ des FH-Bereichs ist dort immerhin nach wie vor die Berufsausbildung samt Berufsmatur (Art. 5 Abs. 1 lit. a FHSG) - oder alternativ eine gymnasiale Maturität mit zusätzlichem relevantem Praxisjahr (Art. 5 Abs. 1 lit. b) - die Basis des Studiums: Der neue Bachelor-Abschluss beinhaltet also nach wie vor eine berufliche Qualifikation. Auf universitärer Stufe dokumentiert der gleiche Titel hingegen ein absolviertes Grundstudium, das allenfalls später in eine spezialisierte Weiterbildung auf Master-Stufe münden kann. In Ländern ohne Maturität wird überdies teilweise auf Bachelor-Ebene noch Allgemeinbildung nachgeholt.
    Es stellt sich die Frage, ob die Stärke der FH nicht gerade dort liegt, wo sie traditionell stark waren, nämlich in ihrer Verankerung in der Berufsbildung, also in ihrer Praxiskompetenz. Wenn dem so ist, wird wohl ein Teil der Ressourcen im Bildungswesen falsch eingesetzt - und zwar primär aus Gründen von Prestige und Einkommen: Die gezwungene allgemeine Verpflichtung von FH auf Forschung zielt dann teilweise am eigentlichen Auftrag dieser Bildungsinstitutionen vorbei - Fachhochschulgesetz hin oder her. Ressourcenknappheit legt speziell für die FH den Schluss nahe, die Mittel hier sorgfältig einzusetzen: Forschung ist eine Sache des Talents und der intrinsischen Motivation. Letztere finden sich durchaus an den FH, sind aber nicht so verbreitet wie an den Universitäten sowie den beiden ETH.

    5. Im vorherigen Punkt war von der nur scheinbaren Harmonie zwischen Bachelor (Uni) und Bachelor (FH) die Rede. In abgeschwächtem Masse gilt dies auch für den Master-Grad. Aber auch am oberen Ende der Skala wird mit der - schon vor der Bologna-Reform - vollzogenen Aufwertung der Fachhochschuldozenturen zu Professuren der Eindruck einer Einheitlichkeit erweckt, die so nicht zutrifft. Der Weg zum Universitätsprofessor führt sowohl über intensive Publikationstätigkeit als auch über eine Habilitation beziehungsweise eine Assistenzprofessur mit Tenure Track und ist ris­kanter und steiler.

    6. Qualitätsprobleme stellen sich aber keineswegs nur im FH-Bereich, wenn man an die Fixierung auf blosse Zahlen von Maturandinnen und Hochschulabsolventen und deren stark politisch-opportunistisch motivierte Ausdehnung denkt. Der Trend zur Massenuniversität ist ja nur deshalb möglich, weil vermehrt auch trivialere praktische Aufgaben und deren Lösung im Rahmen neuer Fächer akademisiert werden [kritisch: Zimmermann 2007] - Aufgaben, die von qualifizierten Praktikern meistens bestens gelöst werden könnten. Selbstverständlich sind neue (mittlerweile zum Teil etablierte) Disziplinen entstanden, die wie die Informatik ihre Eignung zur wissenschaftlichen Lösung schwierigster Probleme eindrücklich bewiesen haben. Nicht alle aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Probleme haben demgegenüber schon den Rang von Themen, die mit wissenschaftlichen Methoden bearbeitet werden müssen. Speziell an universitären Hochschulen sollten Studien - welcher Fachrichtungen auch immer - die Absolvent/innen doch mit intellektuellen Instrumenten und Techniken vertraut machen, die sie auch auf andere als die im Moment des Studiums gerade aktuellen Aufgaben anwenden können. Eine Universitätsausbildung darf sich schon gar nicht darauf beschränken, gleichsam blosse Betriebsanleitungen zur Bewältigung momentan brennender Probleme abzugeben.


LITERATUR

Barro, Robert J: Human Capital and Growth. In: American Economic Revew, 91 (2001), No. 2, S. 12-17.
Samuelson, Paul A.; Nordhaus, William D.: Economics. Boston etc., 17. Aufl. 2001.
Stolz, Peter: Ingenieure abseits der Bildungsexpansion. In: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 116 (1980), Heft 1, S. 31-52.
Zimmermann, Heinz: Realitätsferne Akademisierung des Arbeitsmarktes. In: Basler Zeitung, 5. März 2007, S. 30.


Wettbewerb, Effizienz und Ethik
Von Peter Stolz, Professor am WWZ der Universität Basel (emeritiert)

Speziell von Nichtökonomen wird oft grundsätzlich bezweifelt, dass Effizienzgewinne im Sinne einer Steigerung materiellen Wohlstands einerseits und Ethik bzw. bestimmte ethische Positionen andererseits überhaupt miteinander vereinbar seien. Dies wird im Folgenden an einem realistischen Beispiel diskutiert: Als Ausgangspunkt dient die Annahme, eine Unternehmung bringe ein Haushaltsgerät mit einer bisher unerreichten Energieeffizienz auf den Markt. Der Wettbewerb mit den Konkurrenzfirmen auf diesem Konsumgütermarkt habe den Anreiz dazu vermittelt und den konkreten Anstoss zur Innovation gegeben. Es gelinge dem innovativen Unternehmen, dank seines neuen Produkts seinen Marktanteil auf Kosten desjenigen der Konkurrenzfirmen zu erhöhen – mit allen Folgen für Gewinne und Beschäftigung.

    Als Exempel einer in verschiedenen Kulturkreisen und Religionen verbreiteten Maxime formaler Ethik diene die Goldene Regel [Beispiel einer ethischen Diskussion inmitten von ökonometrischen Untersuchungen: Stolz und Camenzind 1992, S. 120 ff.]. In der oft erwähnten negativen Fassung besagt sie, dass man einer anderen Person nichts zufügen solle, was man selber nicht erdulden wolle: „Person“ kann in diesem Zusammenhang neben einem Individuum zum Beispiel auch eine juristische Person bedeuten. In einer christlich inspirierten Wirtschaftsethik läge auch die positive Version dieser Maxime [Venetz 1995, S. 149] nahe, wie sie in der Bergpredigt (Mt 7,12) steht: „ Alles nun, was ihr wollt, dass es euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun...“ Hier wird demgegenüber aus didaktischen Gründen die negative Form der Goldenen Regel verwendet, weil sie sich optimal in das Fallbeispiel einfügt. Sachlich ändert sich im vorliegenden Kontext dadurch keine der Aussagen. Die Maxime lautet dann: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

    Verstösst nun der genannte Anbieter des neuen, energiesparenden Haushaltsgeräts nicht genau gegen diese Regel, da er es ja umgekehrt auch nicht schätzen würde, seine Marktanteile an die Konkurrenz zu verlieren? Wenn man das Verhalten der für die Markteinführung des neuen Produkts zuständigen Person(en) isoliert betrachtet, ist man geneigt, diese Frage zu bejahen. Intensiver Wettbewerb - im besprochenen Fall Qualitätswettbewerb – erschiene dann ethisch fragwürdiger als wenig intensive Konkurrenz. Jedoch, die Institution des Wettbewerbs erschöpft sich nicht in einer Konfliktsituation zwischen mehreren Anbietern, in welcher der Vorteil des einen, wie zum Beispiel im Schach, lediglich gleich dem Nachteil der anderen ist. Konkurrenz muss also nicht zwangsläufig ein Nullsummenspiel, sondern kann potenziell eine Win-Win-Situation sein [Hirshleifer 1978, S. 239 f.]. Der aus dem Qualitätswettbewerb hervorgehende technische Fortschritt stiftet vielmehr den Nachfragern zusätzlichen Nutzen bzw. spart ihnen Energiekosten. Er schützt überdies auch die Umwelt.

    Den Verbrauchern nützlich und der Umweltqualität förderlich ist das neue Produkt natürlich nur, wenn im Beispiel der Qualitätsvorsprung des neuen Haushaltsgeräts nicht unter dem Druck etwa eines scharfen Preiswettbewerbs vom Unternehmen bloss vorgetäuscht wird – einer Unternehmung, die dann nur scheinbar neuerungsfreundlich ist. Ein nur vorgespielter, die Nachfrager irreführender Qualitätsvorsprung ist hingegen unethisch gegenüber den Konsumentinnen, ethisch defizitär aber auch im Verhältnis zu den Mitkonkurrenten. Wohlgemerkt: „Unethisch“ ist keine Sachaussage, sondern gewinnt in einem Kontext, der sich an wissenschaftlichen Massstäben orientiert, nur dann einen Sinn, wenn man genau sagt, welches Konzept von Ethik man meint: hier also die Goldene Regel. Obwohl Wirtschaftsrecht wie alles Recht nur ein ethisches Minimum ist, kann derart ausgeprägt unethisches Verhalten doch auch widerrechtlich im Sinne unlauteren Wettbewerbs sein.

    Die Goldene Regel verlangt hingegen fairen Wettbewerb, wobei sich wie erwähnt diese und andere moralische Forderungen teilweise auch in gesetzlichen Bestimmungen niederschlagen. Ein bildlicher Vergleich mit einem sportlichen Wettbewerb soll das Fairnessgebot verdeutlichen: Fair ist zum Beispiel der Wettbewerb solange, als ein/e Sportler/in nicht den Schiedsrichter täuscht, nicht andere Athleten bzw. Spieler einer gegnerischen Mannschaft an der Entfaltung von deren Können hindert, indem diese etwa an der Kleidung zurückgehalten werden usw. Im Sinne der Fairness ist es vielmehr, die eigenen Kräfte möglichst gut einzusetzen. Am Paradigma des sportlichen Wettkampfs wird deutlicher, dass die Goldene Regel gemäss dieser Konzeption auf die Spielregeln abzielt, also auf die Ebene der Institutionen, nicht auf die des konkreten Spielausgangs im einzelnen. Die Akteure müssen die gleichen Chancen haben, ihre Fähigkeiten und ihren Fleiss zu entfalten und einzusetzen. Diese Chancengleichheit kann Effizienz mit einer inhaltlich bestimmten Form der Gleichheit versöhnen [Rawls 1973, S. 359].

    Auf der Ebene des konkreten Ergebnisses eines „Spiels“ gibt es hingegen leider Verlierer. Die oben genannte Zielharmonie zwischen Effizienz und Chancengleichheit als einer bestimmten Ausprägung der Goldenen Regel setzt sich auf der individuellen Ebene nicht automatisch fort. Immerhin ist es auch im Interesse der Schwächeren wohl besser, wohlstandssteigernde Massnahmen nicht zu blockieren, sondern Verlierer im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft wo nötig zu kompensieren.

LITERATUR

Hirshleifer, Jack: Competition, Cooperation, and Conflict in Economics and Biology. In: American Economic Review, 68 (1978), No. 2, S. 238-243.
Rawls, John: Distributive Justice. In: E.S. Phelps (Hrsg.): Economic Justice. Harmondsworth etc. 1973, S. 319-362.
Stolz, Peter; Camenzind, Paul: Innovationen, Beschäftigung und Arbeitswelt. Chancen und Risiken aus ökonomischer Sicht. Chur und Zürich 1992.
Venetz, Hermann-Josef: Die Bergpredigt. Biblische Anstösse. Düsseldorf und Fribourg, 3. Aufl. 1995.


Direkte Bundessteuer - Abschaffen oder Tarif überdenken?
Von Peter Stolz, Professor am WWZ der Universität Basel (emeritiert)

Ende Januar dieses Jahres schlugen die Delegierten der FDP Schweiz vor, die Direkte Bundessteuer sei abzuschaffen. Dieser Punkt ist Bestandteil eines Programms für eine wachsende Schweiz, das von der grossen Mehrheit der FDP-Delegierten angenommen wurde. Es gab schon früher Vorstösse in dieser Richtung. Eine der hauptsächlichen Kritiken (auch aus FDP-Kreisen) an dieser Absicht liegt darin, dass die Einnahmenausfälle kompensiert werden müssten und dass dadurch die Mehrwertsteuerbelastung stiege. Ein höherer Satz bzw. höhere Sätze bei der Mehrwertsteuer würden aber wegen der degressiven Wirkung die wirtschaftlich ohnehin schon Schwächeren zusätzlich belasten.

    Das heisst aber nicht, dass die Direkte Bundessteuer in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung nicht Schwachpunkte aufwiese. Wenn auch die wirtschaftlich Schwachen geschont werden, zieht die Steuerbelastung ausgerechnet im Mittelstandsbereich massiv an. Einige Beispiele sollen diese Aussage belegen. Für Verheiratete sowie für alleinstehende Personen mit Unterhaltspflicht (Tarif B) beläuft sich die Steuerbelastung (Durchschnittssteuersatz) bei einem steuerbaren Einkommen von 65'000 CHF pro Jahr lediglich auf 1 Prozent. 97'000 Franken werden mit 2,1% besteuert, 108'100 CHF steuerbares Einkommen pro Jahr schon mit 2,5%, und bei 134'700 Franken beträgt der durchschnittliche Steuersatz gut 3,6 Prozent.

    Damit die Anreize zu arbeiten und zu leisten intakt sind, ist die Grenzsteuerbelastung (oder marginale Steuerbelastung) noch wichtiger als der durchschnittliche Steuersatz. Die Grenzsteuerbelastung gibt an, wieviele Rappen man von einem zusätzlichen Franken an den Fiskus abliefern muss. Mathematisch formuliert, handelt es sich um die erste Ableitung des Steuerbetrags nach dem steuerbaren Einkommen. Diese Grenzsteuerbelastung beträgt bei den genannten 65’000 Franken im Tarif B 3%: Für jeden weiteren Franken steuerbares Einkommen sind somit 3 Rappen an den Bund abzuliefern. Bei 108'100 Franken schnellt dieser Wert auf 7 Prozent hinauf, um bei 134'700 CHF 12% zu erreichen. Die höchste Grenzsteuerbelastung von 13% wird bei Verheirateten oder Unterhaltspflichtigen (Tarif B) ab einem Einkommen von 136'500.- pro Jahr erreicht. In Tarif A für Alleinstehende kommt dieser Grenzsteuersatz von 13% übrigens erst bei einem höheren Einkommen zum Tragen. Zurück zum Tarif B: Ab dem äusserst hohen Jahreseinkommen von 843'600 CHF geht der marginale Steuersatz wieder auf 11,5 Prozent zurück. Dies ist so, weil in Art. 128 Abs. I lit. a der Bundesverfassung der durchschnittliche Steuersatz auf dieser Schwelle „abgeregelt“ wird. Die Steuer ist ab dann proportional, das heisst, der durchschnittliche und der marginale Steuersatz sind gleich hoch und konstant.

    Im Lichte der Tatsache, dass für Mittelstandseinkommen knapp über 100'000 CHF finanzielle Anreize zu arbeiten eher wichtiger sind als für extrem gut Situierte ab 843'600 Franken, erscheint diese Abstufung der Grenzsteuerbelastung als eher seltsam. Die häufige Bezeichnung der Direkten Bundessteuer als Reichtumssteuer ist vor dem Hintergrund dieser Zahlen fragwürdig.

    Betrachten wir nun eine vierköpfige Familie (Tarif B) und vergleichen wir sie mit einer alleinstehenden Person, auf die Tarif A angewendet wird. Wenn die 4-Personen-Familie ein steuerbares Einkommen von - sagen wir – 120'000 Franken im Jahr bezieht, so schuldet sie dem Fiskus 3'520 CHF pro Jahr. Eine alleinstehende Person mit 60'000 Fr./Jahr steuerbarem Einkommen zahlt dafür demgegenüber nach Tarif A 786.45 Fr. Gemäss allgemein akzeptierten Äquivalenzkriterien muss eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern ein doppelt so grosses Einkommen wie eine alleinstehende Person ohne Kinder erzielen, um den gleichen Wohlstand zu erreichen [Leu et al., zit. nach Frey 2002, S. 185f.] - deshalb dieser Vergleich. Bei gleichem Wohlstand zahlt also die Familie ungefähr 4,5 mal soviel Steuern wie die alleinstehende Person. Bei gleichem Äquivalenzeinkommen wird die vierköpfige Familie also um ein Mehrfaches stärker belastet als der Einpersonenhaushalt.

    Nehmen wir jetzt an, das Einkommen dieser Familie aus 4 Personen entstamme nur einer Quelle: Dann ist es plausibel davon auszugehen, dass dieser eine Verdiener eine höhere formale Qualifikation erworben und eine längere Ausbildung durchlaufen hat als die Person, die im Jahr 60'000 Franken verdient. Daraus folgt, dass sich das Lebenseinkommen des „Familienversorgers“ auf eine kürzere Zeitspanne konzentriert als das der allein lebenden Person. Das grössere Jahreseinkommen führt zu einer höheren Progression und damit selbst bei einem gleichen Lebenseinkommen zu einem höheren Steuersatz [Stolz 2004, S. 366]. In einem Bundesgerichtsentscheid [Praxis BGer 1984] wird jedoch verlangt: „Leute mit gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit sollen gleich viel Steuern bezahlen“.

    Natürlich ergeben sich bei Kantons- und Gemeindesteuern - freilich meist in milderer Form – analoge Probleme wie einige der genannten. Bei der direkten Bundessteuer sind die Probleme aber besonders virulent. Einen Teil dieser Schwierigkeiten könnte man gerade hier mit einer Milderung des Tarifs im Bereich der Mittelstandseinkommen lösen. Mit den wiederholten Forderungen, diese Steuer abzuschaffen, verwendet man aber Ressourcen genau auf die Variante, die am wenigsten Chancen hat, realisiert zu werden.

LITERATUR

Frey, René L.: Wirtschaft, Staat und Wohlfahrt. Basel, Genf und München, 11. Auflage 2002.
Praxis des Bundesgerichts: 1984, Nr. 234, S. 630.
Stolz, Peter: Chancen und Risiken ökonomischen Denkens in der juristischen Lehre und in der Rechtssprechung. In: C.A. Schaltegger und S.C. Schaltegger (Hrsg.): Perspektiven der Wirtschaftspolitik. Festschrift für Prof.Dr. René L. Frey, Zürich 2004, S. 361-374.


 

 

31.01.2015